Pflegewissenschaft als Motor für die Weiterentwicklung der Praxis
Die Pflegewissenschaft in Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem wichtigen Akteur in der Weiterentwicklung der pflegerischen Versorgung etabliert. Trotz ihrer relativ jungen Geschichte ist es der Pflegewissenschaft gelungen, zentrale Erkenntnisse hervorzubringen, die maßgeblich zur Verbesserung der Versorgung pflegebedürftiger Menschen beigetragen haben. In diesem Artikel beleuchten wir den aktuellen Stand der Pflegewissenschaft, ihre Herausforderungen und Potenziale und zeigen auf, wie die Forschung den Pflegefachpersonen in der Praxis helfen kann.
Der Ursprung der Pflegewissenschaft
In Deutschland begann die Pflegewissenschaft erst in den 1990er Jahren, als Studiengänge in Pflegewissenschaft an Universitäten eingeführt wurden. Viele der ersten Pflegewissenschaftler:innen hatten zuvor in anderen Disziplinen wie Soziologie, Psychologie oder Pädagogik studiert. Diese sogenannte „interdisziplinäre“ Prägung hat die Pflegewissenschaft von Beginn an stark beeinflusst.
Dr. Bernhard Holle, Leiter der Arbeitsgruppe für Versorgungsstrukturen am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, beschreibt diese Entwicklung als einen wichtigen Prozess zur Etablierung der Disziplin.
„Vor 30 Jahren waren das keine Pflegewissenschaftler, die angefangen haben Pflegewissenschaft zu betreiben. Das waren meistens Pflegende, die aber ein anderes Studium absolviert haben.“ – Dr. Bernhard Holle
Die Rolle der Pflegewissenschaft heute
Pflegewissenschaftliche Forschung zielt darauf ab, konkrete Verbesserungen in der pflegerischen Versorgung zu erzielen. Dabei steht der pflegebedürftige Mensch stets im Mittelpunkt. Ein zentrales Ziel der Forschung ist es, Pflegefachpersonen mit wissenschaftlich fundierten Methoden und Interventionen zu unterstützen, die eine qualitative Verbesserung der Versorgung ermöglichen.
Ein Beispiel für solche Forschung ist die verstehende Diagnostik bei Menschen mit Demenz. In jahrelanger Forschungsarbeit wurden standardisierte Rahmenempfehlungen entwickelt, die mittlerweile in vielen Pflegeeinrichtungen angewendet werden, um das Verhalten von Menschen mit Demenz besser zu verstehen und zu beeinflussen.
Der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis
Einer der größten Herausforderungen der Pflegewissenschaft ist der Transfer von Forschungsergebnissen in die Praxis. Oft vergehen viele Jahre von der ersten Studie bis zur Implementierung einer neuen Methode in der Pflege. So beschreibt Dr. Holle den langen Weg von der ersten Idee bis zur praktischen Umsetzung der verstehenden Diagnostik:
„Wir haben 2019, das Projekt wurde beendet 2017, das heißt 14 Jahre haben wir von einer ersten Idee bis zu einem Stand der Interventionsentwicklung benötigt.“
Der lange Zeitraum verdeutlicht, dass der Weg von der Theorie in die Praxis komplex und zeitaufwendig ist. Doch gerade dieser Prozess ist entscheidend, um die Pflege nachhaltig zu verbessern.
Herausforderungen der Pflegewissenschaft
Pflegewissenschaftler:innen sehen sich oft der Kritik ausgesetzt, zu weit von der Praxis entfernt zu sein. Die Anforderungen an die Wissenschaft – wie Publikationen und Drittmitteleinwerbung – stehen oft im Widerspruch zur schnellen Umsetzbarkeit von Forschungsergebnissen in der Pflegepraxis. Gleichzeitig müssen Pflegewissenschaftlerkontinuierlich an der Weiterentwicklung der pflegerischen Versorgung arbeiten.
Holle beschreibt diese Herausforderung so: „Soll ich sagen als Wissenschaftler, ich ignoriere völlig alles, was da an Praxis vorherrschend ist und setze das höchste Level an, an wissenschaftlicher Evidenz, oder reduziere ich den Anspruch einer Intervention hinsichtlich ihrer Wirkung auf das Maß, welches ich in der Praxis vorfinde?“
„Pflegewissenschaft muss bestrebt sein, ihre Energien auf eine Verbesserung der qualitativ angemessenen Versorgung pflegebedürftiger Menschen und ihrer Angehörigen zu richten.“ – Dr. Bernhard Holle
Pflegewissenschaft und Praxis: Eine Brücke bauen
Um die Lücke zwischen Wissenschaft und Praxis zu schließen, sind innovative Konzepte gefragt. Ein vielversprechendes Modell ist das sogenannte „Living Lab“ in Maastricht. Dabei arbeiten Pflegewissenschaftler
regelmäßig direkt in Pflegeeinrichtungen und entwickeln gemeinsam mit den Pflegenden neue Lösungen. Dieser enge Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis ermöglicht es, wissenschaftliche Erkenntnisse schneller und effektiver in die Praxis zu übertragen.
Der Weg in die Zukunft: Interdisziplinäre Ansätze
Die Pflegewissenschaft ist eng mit anderen Disziplinen wie der Medizin, Soziologie und Psychologie verknüpft. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit ist entscheidend, um die vielfältigen Herausforderungen der Pflege zu bewältigen. Ein Beispiel dafür ist das Modellprojekt „Viva – Vielfalt aus einer Hand“, das stationäre und ambulante Pflege verbindet, um eine ganzheitliche Versorgung zu gewährleisten. Die wissenschaftliche Begleitung des Projekts durch Pflegeforscher:innen spielt dabei eine zentrale Rolle.
Fazit
Die Pflegewissenschaft ist ein zentraler Bestandteil der Weiterentwicklung der Pflegepraxis. Trotz der Herausforderungen, insbesondere im Bereich des Transfers von Forschungsergebnissen in die Praxis, zeigt sich, dass der enge Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis entscheidend ist. Modelle wie das „Living Lab“ oder das „Viva“-Projekt sind wegweisend und zeigen, wie die Brücke zwischen Forschung und Praxis erfolgreich geschlagen werden kann.
Weiterführende Links
- Gesundheit.Macht.Politik.-Podcast (gmp-podcast)
- Zweikörperproblem-Podcast (ZKPB)
- Tutor-Pflege (Universität Witten/Herdecke)
- Projekt "Vifa" (DZNE)
- Projekt "FallDem" (DZNE)
- "Living Lab" Maastricht (Maastricht University)
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