Selbstbestimmtes Leben im Pflegeheim: Zwischen Fürsorge und Autonomie
Der Übergang ins Pflegeheim ist oft ein tiefer Einschnitt. In dieser sensiblen Lebensphase stehen nicht nur die medizinische Versorgung und Pflege im Vordergrund, sondern auch die Frage, wie Pflegebedürftige ihre Selbstbestimmung und Würde behalten können. Ein Forschungsprojekt hat dies aus soziologischer und ethischer Perspektive untersucht und zeigt auf, wie Selbstbestimmung und Würde in Pflegeeinrichtungen gefördert werden können. Die Ergebnisse geben Aufschluss darüber, wie Pflegefachpersonen und Bewohner:innen gleichermaßen Verantwortung und Gestaltungsspielräume teilen können.
Pflegeheime als Zwitter-Institutionen: Versorgung und Zuhause vereint
In Pflegeeinrichtungen treffen verschiedene Lebensbereiche aufeinander: Für die Bewohner:innen sind sie Lebensraum, für Pflegefachpersonen ein Arbeitsplatz. Dieser Spagat bringt Herausforderungen mit sich. Regelungen und Tagesabläufe, die für den effizienten Betrieb notwendig sind, stoßen oft auf den Wunsch nach Autonomie und persönlicher Gestaltung. Die Forscher:innen betonen die Bedeutung einer "kleinen Ethik des Alltags", in der Details wie Essenszeiten, die Auswahl der Kleidung und die Möglichkeit der sozialen Interaktion eine entscheidende Rolle spielen. Selbstbestimmung wird so zur täglichen Aufgabe – sowohl für die Pflegepersonen als auch für die Organisation als Ganzes.
"Die kleinen Dinge des Alltags machen den Unterschied – sie sind der Schlüssel zu wahrer Würde und Autonomie." - Dr. Stephanie Stadelbacher
Pflegefachpersonen als Schlüsselakteur:innen für Würde und Selbstbestimmung
Pflegefachpersonen spielen eine entscheidende Rolle, indem sie den Alltag der Bewohner:innen gestalten und gleichzeitig sicherstellen, dass deren Wünsche und Grenzen respektiert werden. Dabei stehen sie oft im Spannungsfeld zwischen Fürsorgeauftrag und Selbstbestimmung. Ihre Aufgabe ist es, einen Mittelweg zu finden, der den Bedürfnissen der Bewohner:innen gerecht wird, ohne dabei die organisatorischen Notwendigkeiten zu vernachlässigen. Eine besondere Herausforderung bleibt dabei, einen respektvollen Umgang in intimen Situationen wie der Körperpflege zu gewährleisten, da solche Momente oft von Scham geprägt sind. Hier zeigt sich, wie wichtig Empathie und eine professionelle Distanzierung für die Pflege sind.
Selbstbestimmung als Aushandlungsprozess: Rechte und Grenzen im Pflegeheim
Eine wesentliche Erkenntnis des Projekts ist, dass Selbstbestimmung stets im Kontext der Gemeinschaft ausgehandelt werden muss. Für die Bewohner:innen bedeutet das, dass ihre individuellen Wünsche oft an organisatorische Grenzen stoßen. Ein Beispiel sind die privaten Gegenstände im Zimmer – ob das Pflegeheim dies zulässt, hängt oft von Sicherheitsüberlegungen ab. Ein weiteres Beispiel betrifft Essenswünsche und -zeiten, die im Spannungsfeld zwischen individuellen Vorlieben und den Strukturen des Hauses stehen. Dieses Aushandeln ist nicht nur ein Prozess zwischen Bewohner:innen und Pflegefachpersonen, sondern betrifft die gesamte Organisation – bis hin zur Hauswirtschaft und den Angehörigen.
Bedeutung der Organisation: Selbstbestimmung als gemeinschaftlicher Wert
Selbstbestimmung ist nicht nur eine Frage individueller Wünsche, sondern bedarf auch struktureller Voraussetzungen. Das Forschungsprojekt hebt hervor, dass Selbstbestimmung und Würde in Pflegeeinrichtungen nur dann umfassend umgesetzt werden können, wenn alle Beteiligten – vom Pflegedienst bis zur Hauswirtschaft – dieselben Werte teilen. Viele Einrichtungen arbeiten bereits mit Konzepten wie Bewohnerbeiräten und ethischen Fallbesprechungen, die den Bewohner:innen eine Stimme geben und ihre Bedürfnisse in den organisatorischen Alltag einfließen lassen. Eine positive Organisationskultur, die Flexibilität und Respekt in den Mittelpunkt stellt, kann maßgeblich dazu beitragen, die Selbstbestimmung der Bewohner:innen zu stärken.
"Selbstbestimmung ist kein Selbstläufer, sondern braucht ein Zusammenspiel aller Beteiligten im Heim." - Prof. Dr. Kerstin Schlögl-Flierl
Pflege als Balanceakt: Die Pflegefachperson zwischen Assistenz und Begrenzung
Pflegefachpersonen sehen sich täglich damit konfrontiert, die Grenzen zwischen unterstützender Fürsorge und unzulässigem Eingriff zu erkennen und zu respektieren. Sie übernehmen eine Art Anwaltsrolle, indem sie die Anliegen der Bewohner:innen gegenüber der Organisation vertreten und für deren Rechte eintreten. Gleichzeitig ist es Teil ihrer Aufgabe, auch für Sicherheit zu sorgen und mögliche gesundheitliche Risiken zu minimieren. Dieser Balanceakt erfordert sowohl Fachwissen als auch ethische Sensibilität. Gerade bei Bewohner:innen mit demenziellen Veränderungen müssen Pflegefachpersonen oft schwierige Entscheidungen treffen, die im besten Interesse des Einzelnen und der Gemeinschaft stehen.
Schlussfolgerung: Gemeinschaft und Autonomie als zentrale Themen
Das Forschungsprojekt macht deutlich, dass Selbstbestimmung und Würde keine Selbstverständlichkeit, sondern vielmehr das Ergebnis eines aktiven Gestaltungsprozesses sind. Pflegeheime, die als caring communities fungieren, stellen ihre Bewohner:innen in den Mittelpunkt und ermöglichen ihnen ein hohes Maß an Autonomie – im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Um dies zu erreichen, bedarf es einer Offenheit für neue Konzepte und einer interdisziplinären Zusammenarbeit, die den Bewohner:innen wie auch den Pflegefachpersonen zugutekommt.
Shownotes zur Folge
- Projekt SeLeP (pflegenetzwerk-deutschland.de)
- Abschlussbericht Projekt SeLeP (pflegenetzwerk-deutschland.de)
- Schlögl-Flierl, Kerstin/Stadelbacher, Stephanie (2022): Die kleinen Dinge sind entscheidend. In: Altenpflege, 8/2022, Vincentz Network, Hannover, S. 18-21. (uni-augsburg.de)
- Infos zum Projekt "Sterben zuhause im Heim (SiH) – Hospizkultur und Palliativkompetenz in der stationären Langzeitpflege" (uni-augsburg.de/)
- Wohltätiger Zwang - Deutscher Ethikrat (ethikrat.org)
- Kompetenzkommunikation und Wertschätzung in der Pflege (KoWeP) (hessip.de)
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