Health Equity: Warum Gesundheitsgerechtigkeit alle betrifft
Gesundheitsversorgung ist nicht für alle gleich
Gesundheit ist ein Menschenrecht – doch nicht alle Menschen haben die gleichen Chancen, gesund zu bleiben oder wieder gesund zu werden. Health Equity, also Gesundheitsgerechtigkeit, stellt sicher, dass soziale, wirtschaftliche oder regionale Unterschiede nicht über den Zugang zu medizinischer Versorgung entscheiden. Doch das deutsche Gesundheitssystem hat hier noch große Defizite. Wie kommt es zu diesen Ungleichheiten und was können wir tun, um sie abzubauen?
Was bedeutet Health Equity?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Health Equity als die Abwesenheit von unfairen und vermeidbaren Unterschieden in der Gesundheitsversorgung zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen. Das Ziel ist, dass jede:r sein volles gesundheitliches Potenzial ausschöpfen kann, unabhängig von Herkunft, Einkommen oder Bildung.
In Deutschland gibt es zwar ein solidarisches Gesundheitssystem, doch Ungleichheiten bestehen weiterhin. Menschen mit niedrigerem Einkommen haben beispielsweise eine höhere Wahrscheinlichkeit, an chronischen Erkrankungen zu leiden. Auch der Wohnort spielt eine Rolle: Wer in einer strukturschwachen Region lebt, hat oft weniger Zugang zu Fachärzt:innen oder Präventionsangeboten.
„Gesundheit ist ein grundlegendes Menschenrecht, doch soziale Ungleichheiten verhindern, dass jede:r das gleiche gesundheitliche Potenzial ausschöpfen kann.“ – Bianca Flachenecker

Gesundheitsungleichheit beginnt lange vor der Behandlung
Ein zentrales Problem ist, dass soziale Faktoren nicht nur den Zugang zur Gesundheitsversorgung beeinflussen, sondern auch das Risiko, überhaupt krank zu werden. So zeigen Studien, dass Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status häufiger an Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen leiden. Dabei spielt nicht nur die medizinische Infrastruktur eine Rolle, sondern auch die Lebensweise: Ernährung, Bewegung und Stressbewältigung sind stark von Einkommen und Bildung abhängig.
Beispielsweise sind somatoforme Erkrankungen – also körperliche Beschwerden ohne klare organische Ursache – besonders häufig in wirtschaftlich benachteiligten Gruppen. Menschen in unsicheren Lebenslagen erleben häufiger Stress, was sich direkt auf ihre Gesundheit auswirkt.
„Wir müssen verstehen, dass Gesundheit nicht erst in der Arztpraxis beginnt, sondern bereits durch soziale Strukturen beeinflusst wird.“ – Bianca Flachenecker
Gleichheit ist nicht Gerechtigkeit
Ein weit verbreitetes Missverständnis ist, dass gleiche Behandlung automatisch zu gleichen Chancen führt. Doch wer ohnehin benachteiligt ist, benötigt oft mehr Unterstützung. Ein berühmtes Beispiel veranschaulicht das Problem: Drei Menschen unterschiedlicher Größe stehen vor einem Zaun und wollen ein Fußballspiel sehen. Bekommen alle die gleiche Kiste zum Draufstellen, sieht nur eine:r über den Zaun. Gerecht wäre es, die Kisten so zu verteilen, dass jede:r über den Zaun sehen kann – oder noch besser: den Zaun gleich abzubauen.
Im Gesundheitswesen bedeutet das: Menschen mit besonderen Risiken oder schlechterer Ausgangslage benötigen gezielte Maßnahmen, um gleiche Gesundheitschancen zu erhalten.
„Es reicht nicht, allen dasselbe zu geben – wir müssen schauen, wer welche Unterstützung braucht, um wirklich gleiche Chancen zu haben.“ – Bianca Flachenecker
Die Rolle der Pflegefachpersonen
Pflegefachpersonen haben eine zentrale Rolle in der Gesundheitsversorgung und können maßgeblich zur Verbesserung der Gesundheitsgerechtigkeit beitragen. Sie sind oft näher an Patient:innen als Ärzt:innen und haben tiefere Einblicke in deren Lebensrealität. Gerade Community Health Nurses könnten eine entscheidende Rolle spielen, um benachteiligte Gruppen besser zu erreichen und präventiv zu arbeiten.
Auch der Forscher Micheal Marmot beschreibt die Rolle der Pflegenden in einem Interview mit dem Royal Collage of Nursing und geht dabei auch auf die sozialen Determinanten ein.
Die Pflege kann auch als Sprachrohr für Patient:innen dienen und auf soziale Herausforderungen aufmerksam machen. Hierzu gehört die Unterstützung bei Prävention, die Identifikation von individuellen Gesundheitsrisiken und die Vermittlung von Aufklärungsangeboten.
Digitalisierung als Chance für mehr Gerechtigkeit
Die Digitalisierung bietet neue Möglichkeiten, um Gesundheitsgerechtigkeit zu verbessern. Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs), Telemedizin und künstliche Intelligenz könnten helfen, Prävention besser auf einzelne Gruppen zuzuschneiden. Doch auch hier gibt es Hürden: Wer keinen Zugang zu stabiler Internetverbindung oder digitalen Gesundheitsangeboten hat, profitiert nicht von diesen Entwicklungen. Besonders Menschen mit geringem Einkommen nutzen seltener digitale Gesundheitslösungen, da sie oft keinen ständigen Internetzugang oder nicht genügend digitale Gesundheitskompetenz haben.
Ökonomische Perspektive: Warum es sich lohnt, in Health Equity zu investieren
Ungleichheit im Gesundheitssystem ist nicht nur ein moralisches Problem, sondern auch ein wirtschaftliches. Chronische Erkrankungen und häufige Krankheitsausfälle belasten nicht nur das Gesundheitssystem, sondern auch die Volkswirtschaft. Studien zeigen, dass bessere Prävention und ein gerechterer Zugang zur Gesundheitsversorgung die Produktivität steigern und langfristig sogar Kosten sparen können.
Unternehmen profitieren ebenfalls von mehr Gesundheitsgerechtigkeit. Durch gezielte betriebliche Gesundheitsförderung, flexible Arbeitszeiten und präventive Maßnahmen könnten Unternehmen die Arbeitsfähigkeit ihrer Mitarbeitenden verbessern und Fehlzeiten reduzieren.
Wie können wir Health Equity erreichen?
Um Gesundheitsgerechtigkeit zu fördern, braucht es Veränderungen auf mehreren Ebenen:
- Politik: Maßnahmen zur besseren Verteilung von Gesundheitsressourcen, Prävention als zentrale Säule der Versorgung etablieren.
- Gesellschaft: Bewusstsein für soziale Determinanten der Gesundheit schärfen.
- Pflege und Medizin: Patient:innen ganzheitlich betrachten, individuelle Bedürfnisse berücksichtigen.
- Unternehmen: Arbeitsumgebungen schaffen, die Gesundheit und Wohlbefinden fördern.
- Digitalisierung: Gesundheitsangebote so gestalten, dass sie für alle zugänglich sind.
„Wir brauchen eine systemische Veränderung, um langfristig mehr Gesundheitsgerechtigkeit zu schaffen – davon profitieren letztlich alle.“ – Bianca Flachenecker
Health Equity ist keine Utopie, sondern eine Notwendigkeit. Wer heute investiert, baut ein gerechteres und gesünderes Gesundheitssystem für die Zukunft.
Wer ist Bianca Flachenecker?
Bianca Flachenecker ist Journalistin und Expertin für Gesundheitsmanagement. Nach Stationen in der Fachmedienbranche und im Consulting ist sie heute als Referentin des Vorstands bei den Kreisliniken Günzburg-Krumbach tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf Public Health und Gesundheitsgerechtigkeit. In ihrem Buch "Health Equity im deutschen Gesundheitssystem. Eine Studie zum ökonomischen Potenzial im Kontext der Digitalisierung" untersucht sie das ökonomische Potenzial von Gesundheitsgerechtigkeit im Kontext der Digitalisierung.
Weitere Links und Infos zur Folge:
- LinkedIn Kontakt von Bianca
- Somatoforme Störungen und Funktionsstörungen
- German Index of Socioeconomic Deprivation (GISD)
- Sozioökonomische Muster von Krebserkrankungen in Deutschland
- Sozioökonomische Ungleichheit und COVID-19 – Eine Übersicht über den internationalen Forschungsstand des RKI (2020)
- Gesundheitswirtschaftliche Gesamtrechnung (GGR)
- Krankheitslast und sozioökonomische Auswirkungen von Migräne in Deutschland
- Buch von Christian Thielscher (2022): Wirtschaft und Gerechtigkeit. Was ist gerecht und wie beeinflussen Wirtschaftstheorien die Verteilung von Gütern?
- Michael Marmot (2017): The Health Gap: The Challenge of an Unequal World: the argument
- Das Gespräch mit Sir Michael Marmot, Präsident des Weltärztebundes: „Ärzte sind die Anwälte der Armen“
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