Hessen setzt Pflege auf die Agenda

Es ist bemerkenswert, dass eine Krankenhausgesellschaft einen Pflegetag ausrichtet. Und noch bemerkenswerter, wie offen die Gespräche dort geführt wurden. Keine PR-Sprache, keine Durchhalteparolen. Sondern: ehrliche Bestandsaufnahmen, differenzierte Perspektiven, streitbare Positionen.

Prof. Dr. Steffen Gramminger, Geschäftsführer der Hessischen Krankenhausgesellschaft, war als Gastgeber gleich zu Beginn im Gespräch. Und er machte klar: Die Krankenhausreform wird nur funktionieren, wenn Pflege mitgedacht wird. Nicht als nettes Add-on, sondern als tragende Säule. Und das bedeutet auch: neue Versorgungsformen, neue Rollen, neue Prioritäten. Die Pflege von morgen braucht andere Rahmenbedingungen. Und andere Erwartungen an sich selbst.

Pflege ambulant und akademisch

Ein zentrales Thema auf dem HKG-Pflegetag war die große Krankenhausreform. Zentralisierung, Ambulantisierung, neue Leistungsgruppen. Klingt nach Verwaltung, meint aber: Wie und wo werden Patient:innen in Zukunft versorgt? Und von wem?

„Wir müssen raus aus der Opferrolle. Pflege sollte Verantwortung freiwillig übernehmen – nicht blockieren mit 'das ist nicht meine Aufgabe'.“
- Prof. Dr. Steffen Gramminger

Die Antworten darauf zeigen, dass Pflege noch viel stärker gefordert sein wird als bisher. Gerade in ländlichen Regionen, wo kleine Kliniken schließen oder umgewidmet werden. Wo Versorgungslücken entstehen, die irgendwer schließen muss. Und das heißt: Pflegefachpersonen brauchen Kompetenzen, Entscheidungsspielräume und Sichtbarkeit.

Die Generalistik, das Pflegekompetenzgesetz und Konzepte wie Community Health Nursing oder Advanced Practice Nursing sind dabei keine Spielereien, sondern konkrete Antworten auf reale Lücken. Aber: Diese neuen Rollen müssen auch gewollt, verstanden und finanziert werden. Sonst bleibt es beim Lippenbekenntnis.

Zwischen Zahlen und Vertrauen: Führen mit Kennzahlen

Nils Dehe vom Sana Klinikum Offenbach hat gezeigt, wie Pflegeführung auch funktionieren kann: datenbasiert. Kennzahlen nicht als Drohkulisse, sondern als Orientierung. Und Gespräche mit Teamleitungen nicht als Pflichttermin, sondern als Möglichkeit.

"Was wir an einer Stelle sparen, können wir an anderer Stelle investieren – in die Zukunft unserer Berufsgruppe."
- Nils Dehe

Er erzählt davon, wie Quartalsgespräche dabei helfen, Zusammenhänge zu verstehen. Etwa zwischen Personalausstattung und Qualität, zwischen Sachkosten und Handlungsspielräumen. Und er sagt deutlich: Pflege braucht mehr Unternehmer:innengeist. Nicht um Kosten zu sparen, sondern um Spielräume zu schaffen.

Gewalt hat keinen Platz – aber viel Raum

Ein Thema, das sonst selten auf Kongressen vorkommt: Gewalt in Gesundheitseinrichtungen. Michelle Berg und Constanze von Struensee vom Agaplesion-Konzern haben gezeigt, wie man eine Organisation gewaltkritisch aufstellen kann.

"Hinsehen statt Wegschauen" ist nicht nur ein Motto, sondern eine Haltung. Und sie betrifft alle: Patient:innen, Besucher:innen, Kolleg:innen. Gewalt kann überall passieren. Und wenn man sie ernsthaft bekämpfen will, braucht es mehr als nur eine Richtlinie. Es braucht Gespräche. Es braucht Mut. Und es braucht Strukturen, die Schutz bieten.

Pflegepersonalbemessung: Ein Maßstab muss her!

Arne Evers hat über Pflegepersonalbemessung gesprochen. Und dabei klargemacht: Es gibt viele Instrumente, aber wenig Evidenz. Viel Meinung, wenig Forschung. Das heißt nicht, dass alles schlecht ist. Aber es zeigt: Wir brauchen Pflegeforschung, die mehr ist als Begleitmusik. Wir brauchen sie als Grundlage für Entscheidungen.

Die PPR 2.0 ist ein Prozess - Podcast mit Arne Evers
🎙️ Arne Evers diskutiert im Podcast die PPR 2.0: Ein Instrument zur adäquaten Pflegepersonalplanung, das auf individuelle Patient:innenenbedürfnisse eingeht und die Qualität der Versorgung verbessern soll.

Er spricht sich für ein unabhängiges Institut für Personalbemessung aus. Für eine Pflege, die ihre Standards selbst entwickelt. Und für eine Pflege, die sich nicht in Normen verliert, sondern ihre Wirkung kennt.

Organspende: Wenn Pflege Vertrauen schafft

Karsten Gehmlich von der DSO hat einen wichtigen Bereich in den Fokus gerückt: die Rolle von Pflege in der Organspende. Er beschreibt, wie Pflegefachpersonen Gespräche führen, Familien begleiten, Prozesse sichern. Und wie es anderswo schon heute funktioniert: In Großbritannien gibt es spezialisierte Pflegefachpersonen für Organspende. Warum nicht auch hier?
Die Idee ist einfach: Pflege kann mehr. Wenn man sie lässt. Wenn man ihre Kompetenzen anerkennt. Und wenn man gemeinsam Strukturen schafft, die Vertrauen ermöglichen. Wir haben das Thema der Organspende bereits im Podcast und als Video aufgearbeitet:

ÜG015 - Organspende (B. Gruber) - Übergabe
Aktuelles Unabhängiger Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf legt ersten Bericht vor (bmfsfj.de) Sofortprogramm Pflege hat bislang keine
Übergabe | Organspende
🎬 In diesem Video bieten wir einen Überblick zur Organspende. Es erklärt die Unterschiede zwischen Lebend- und postmortaler Spende und welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Zudem wird die Bedeutung einer informierten Entscheidung hervorgehoben.

Zertifizierung als Kulturwandel

Sabrina Roßius hat mit Pflegezert ein Zertifizierungsverfahren vorgestellt, das auf Veränderung durch Entwicklung setzt. Nicht "bestehende Prozesse absichern", sondern: neue Wege finden. Mit sechs Befähigungskriterien, die so konkret wie offen sind. Und mit einem klaren Ziel: Pflege stärken, nicht kontrollieren.

„Wir zertifizieren nicht das Ergebnis, sondern das Versprechen, sich auf den Weg zu machen.“
- Sabrina Roßius

Besonders spannend ist dabei, dass man nicht für Ergebnisse zertifiziert wird, sondern für das Versprechen, einen Weg zu gehen. Das braucht Mut, Vertrauen und Struktur. Wir haben Das Thema mit Sarah Lukuc schonmal im Detail im Podcast besprochen:

Pflegeattraktiv: Zertifizierung für attraktive Arbeitgeber
🎙️ Das Pflegeattraktiv-Zertifikat unterstützt Pflegeeinrichtungen dabei, ihre Attraktivität als Arbeitgeber zu steigern. Pflegefachpersonen profitieren von besseren Arbeitsbedingungen, die durch das Zertifikat nachweislich gefördert werden.

Migration, Bildung, Perspektiven

Michele Tarquinio vom Klinikum Darmstadt hat den Blick nochmal geweitet. Wie sehen Ausbildungen heute aus? Wie können internationale Pflegefachpersonen integriert werden? Was bedeutet es, wenn Menschen mit Masterabschluss aus Brasilien hier als ungelernt gelten? Er spricht von Barrieren, von Frustration, von ungenutztem Potenzial. Aber auch von Chancen.

„Wenn wir Pflegeausbildung sichern wollen, müssen wir Bildungswege auch für Pädagog:innen neu denken.“
Michele Tarquinio

Wenn wir es ernst meinen mit Internationalisierung, müssen wir Kompetenzen anerkennen. Und wenn wir es ernst meinen mit Ausbildung, müssen wir sie so gestalten, dass sie erreichbar, wirksam und anschlussfähig ist.


Veranstaltungen

🎓 APN-Kongress

Am 22. Oktober 2025 findet im Klinikum Stuttgart der APN-Kongress statt – eine ganztägige Veranstaltung rund um die Weiterentwicklung und Implementierung von Advanced Practice Nursing in Deutschland.

Auf dem Programm stehen spannende Keynotes zur Akademisierung der Pflege, praxisnahe Erfahrungsberichte aus dem Klinikum Stuttgart und interaktive Diskussionsformate wie eine Fishbowl zu berufspolitischen Perspektiven.

📍 Klinikum Stuttgart
🗓️ 22. Oktober 2025

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